Hochsensibilität und Ästhetik - der besondere Blick

Kleine Weihnachtsanekdote
Der Weihnachtsbaum wurde für mich dieses Jahr zu einer Herausforderung der besonderen Art:

 

Passend zur Wohnzimmerfarbe hatte ich die türkisen und silbernen Kugeln ausgesucht.
Mein sechsjähriger Sohn entdeckte jedoch noch eine Kellerkiste mit alten, roten Plastikkugeln. Schneller, als ich schauen konnte, begann er damit, den Baum auf einer Seite (natürlich in unregelmäßigen Abständen!) zu behängen. Wenige Minuten später verkündete er stolz: „Schau, Mama, wie schön!“

 

In meinem ästhetischen Empfinden löste dies alles andere als Harmonie und Schönheit aus. Innerlich quietschte es, wie ein falscher Ton in einem Musikstück. Was jedoch auf besondere Weise mein Herz berührte, war das strahlende Gesicht meines Kindes: seine Vorfreude auf Weihnachten, seine Begeisterung mithelfen zu dürfen! Also sprang ich über meinen Schatten, packte die Geschenke in rotes Papier, trug einen roten (zu meiner Kleidung total unpassenden) Lippenstift auf und ließ mich von seiner kindlichen Vorfreude anstecken.

 

Die Weihnachtsbotschaft trauchte in meiner Erinnerung auf: Ein heiliger Gott kam in diese unperfekte Welt! Es muss wohl nicht perfekt sein, um besonders zu sein! Ich muss nicht perfekt sein und auch nicht der Weihnachtsbaum - was für eine Erleichterung!

 

Optische Disharmonien...

Dennoch veranschaulichte mir diese kleine Alltagssituation, welch hohen Stellenwert ästhetisches Empfinden für Hochsensible einnimmt. Ja es schmerzt förmlich, wenn dieses durch disharmonische Farben und Töne gestört wird. Noch unerträglicher wirken vollgestellte Oberflächen, Unordnung oder wahllos herumliegende Gegenstände. Kleidung, die farblich nicht zusammenpasst, irritiert. Diese Störung kann, trotz mehrfacher Bemühungen, auch nicht einfach ausgeblendet werden! Möbelstücke, die in unterschiedlichen Stil zusammengewürfelt wurden, lösen eine innere Unruhe aus. Dekorative Farben sollten stets aufeinander abgestimmt sein, Pflanzen in der richtigen Größe und Farbe am richtigen Ort stehen. Passen Kissen- und Deckenbezug der Bettwäsche zusammen? Unterstreichen Schmuck und Lidschatten die Farbe der Bluse? Auch bei einem künstlerischen Bild kann ich mit einem Blick sagen, welcher Farbtupfer fehlt.

...und wie sie das Leben verschönern
Bei der Neueinrichtung unseres Hauses hat mir diese Fähigkeit bereits große Dienste erwiesen. Auch bei einem riesigen Überangebot wusste ich meist ziemlich schnell, was es noch braucht, um einem Raum eine gewisse Ausstrahlung zu verleihen.
Das Fotografieren macht mir große Freude, da mich die kleinen, fast übersehbaren Details förmlich anspringen: dieser kleine Käfer am Wegrand, diese besondere Blattfärbung, die unscheinbare Blüte.
Oft genug musste ich mir von anderen anhören, ich sei zu perfektionistisch, zu übertrieben oder gar krankhaft. Im Laufe der Zeit durfte ich jedoch lernen, mich mit dieser Eigenart, welche v.a. visuell geprägten Hochsensiblen inne ist, anzunehmen.
Sterile Klassenzimmer mit Neonlicht werden mir zwar weiterhin das Unterrichten in der Schule erschweren. Doch auch dort versuche ich anzunehmen, was sich nicht ändern lässt. So verlege ich zur Begeisterung der Kinder, den Unterricht auch mal ins Freie.
Dieser besondere Blick, ja, er überfordert manchmal, oft, immer wieder. Aber er macht mein Leben auch reicher, bunter, strahlender! Er bereitet mir unvergessliche Momente des Staunens, der Dankbarkeit und Faszination. Heute kann ich sagen: Dies ist eine Eigenschaft, die ich nicht mehr eintauschen möchte! Sie gehört zu mir, wie die Farben zum Regenbogen.

 

Dissonanzen

Sehen, was Anderen verborgen bleibt.

Menschen, Tiere, Pflanzen.

Fühlen, was dein Gesicht mir zeigt.

Schmerzen der Vergangenheit.

 

Mit den Farben tanzen.

Mich im Abendrot verliern.

Schönheit und Ewigkeit.

Tief in deinem Herzen spürn.
Sandra Hüttenrauch